Die Wiederkehr der Landes- und Bündnisverteidigung – aktuelle Rechtsfragen eines traditionellen Szenarios
Jahrestagung 2018
Am 29. und 30. November 2018 veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht ihre Jahrestagung in Berlin. Auch in diesem Jahr war die Freie Universität Berlin wieder Gastgeber und Kooperationspartner. Beleuchtet wurde die Landes- und Bündnisverteidigung, die – nach langer Fokussierung auf das internationale Krisenmanagement – in jüngerer Zeit wieder stärker als zentrale Aufgabe der Streitkräfte wahrgenommen wird. Das Augenmerk lag dabei vor allem auf neuen Rechtsfragen, die sich im Rahmen der traditionellen Bündnisverteidigung noch nicht gestellt hatten: Kann bestehendes Völkerrecht auf Verteidigung in hybriden Konfliktlagen angewendet werden? Wie kann mit Bedrohungen umgegangen werden, die sich aus neuen Technologien ergeben? Gelten im Cyber-Krieg die gleichen Regeln wie im klassischen Konflikt? Welche Rolle spielt die Europäische Union für die Bündnisverteidigung? Daneben ging es aber auch um Herausforderungen, die sich aus der langjährigen Vernachlässigung der Bündnisverteidigung in Planung und Logistik ergeben.
Nach der Eröffnung durch den Vorsitzenden der Gesellschaft hielt Ministerialdirektor Andreas Conradi, Abteilungsleiter Recht im Bundesministerium der Verteidigung, ein einleitendes Grußwort. Dabei betonte er, dass man auf europäischer Ebene bislang nur einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer „Verteidigungsunion“ gegangen sei. Zwar gebe es die Regelung in Art. 42 Abs. 7 EUV zu einer gegenseitigen Beistandspflicht im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats. Diese sagten bislang aber nichts dazu, wie das Verfahren des gegenseitigen Beistands im Einzelfall ablaufen könne.
Anschließend gab Brigadegeneral a.D. Rainer Meyer zum Felde eine sicherheits- und militärpolitische Einführung. Dabei erläuterte er den politischen Prozess, der zur „Wiederkehr“ der Landes- und Bündnisverteidigung als prioritäre Aufgabe der NATO und zur neuerlichen Wahrnehmung Russlands als eines potentiellen Gegners führte. Er analysierte ausführlich die dahinterstehende Bedrohungslage seit der Krimkrise und die strategischen Weichenstellungen, um die Fähigkeit zur Verteidigung der mittelosteuropäischen Bündnispartner wiederzuerlangen. Dabei wurde auch deutlich, wie stark sich Konfliktszenarien und militärische Optionen von der Zeit des Kalten Krieges unterscheiden.
Prof. Dr. Wolff Heintschel von Heinegg, Europa-Universität Viadrina, sprach anschließend zum Recht auf Selbstverteidigung im Lichte hybrider Bedrohungen. Dabei hob er zunächst hervor, dass hybride Konflikte kein neues Phänomen seien, auch wenn ihr Stellenwert wachse. Deutlich wurde die Unschärfe des Begriffs der „hybriden Bedrohung“, der verschiedenartige Konstellationen zusammenfasst, die sich letztlich dadurch auszeichnen, dass militärische Elemente der Konfliktführung sich mit paramilitärischen, zivilen und technischen (z.B. im Cyber-Bereich) Möglichkeiten der Gewaltausübung oder der Schädigung des Gegners vermischen. Heintschel v. Heinegg erläuterte, dass die herkömmliche Schwelle bewaffneter Konflikte dabei durch die einzelnen Maßnahmen häufig nicht erreicht sei, sich allerdings auch die Frage stelle, wie die Summierung einer Vielzahl derartiger „Nadelstiche“ rechtlich zu bewerten sei. Eine Absenkung der Schwelle für den Einsatz militärischer Gewalt sei gefährlich.
Prof. Dr. Christian Calliess, Freie Universität Berlin und bis vor kurzem Rechtsberater im Planungsstab des Kommissionspräsidenten, erläuterte die Strukturen der Europäischen Verteidigungsunion und namentlich Hintergründe und Potential der vor kurzem neu begründeten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Dabei wurde die Skepsis vieler Mitgliedstaaten hinsichtlich einer Europäischen Verteidigungsunion und auch gegenüber einer Rolle der EU-Kommission als Motor dieser Entwicklung deutlich. Der grundsätzlichen Plausibilität und Notwendigkeit einer engeren europäischen Zusammenarbeit (Stichwort: „Europäische Armee“ und EU-Battlegroups) stehe nicht zuletzt gegenüber, dass die PESCO-Mechanismen zunächst noch ausgearbeitet und erprobt werden müssten. Letztlich ist die Entwicklung mit Blick auf die PESCO noch so jung, dass Prognosen hier kaum möglich sind.
Anschließend befassten sich zwei Referate mit konkreten neuen technischen Anwendungsfeldern und Herausforderungen. Zunächst referierte Prof. Dr. Stephan Hobe, Universität Köln, zur „Selbstverteidigung im Weltraum“ – ein Thema, dass schon in den 1980er Jahren (SDI) diskutiert worden war, aber mit den sich wandelnden technischen Möglichkeiten und der wachsenden Zahl von Nationen, die über Raumfahrttechnik verfügen, von besonderer Aktualität ist. In der Sache geht es v.a. um die rechtlichen Möglichkeiten, gegen Satelliten u.ä. militärisch vorzugehen, sei es mit erd- oder weltraumgestützten Waffensystemen. Im Anschluss daran befasste sich Dr. Tassilo Singer dann mit der Abwehr von Cyberoperationen und damit zusammenhängenden Rechtsfragen im Rahmen der Bündnisverteidigung 2.0. Dieses Thema hat für die NATO mittlerweile einen erheblichen konzeptionellen Stellenwert, der sich auch aus ersten einschlägigen Erfahrungen v.a. der baltischen Länder speist. Dargestellt wurden die technischen Möglichkeiten und rechtlichen Rahmenbedingungen der Cyberkriegführung und ihrer Abwehr bzw. Gegenoperationen.
Zum Abschluss des ersten Konferenztages wurde der Helmuth-James-von-Moltke-Preis für herausragende Dissertationen verliehen. Ausgezeichnet wurden dieses Mal Patrick Oliver Heinemann für seine Arbeit „ Rechtsgeschichte der Reichswehr“ und Anton O. Petrov für seine Arbeit „Expert Laws of War. On restating, interpreting and making international law in expert processes“. Nach einer Würdigung durch den Vorsitzenden der Gesellschaft, MinR Stefan Sohm, stellten beide Preisträger ihre Arbeiten vor.
Den zweiten Tagungstag leitete Dr. Björnstjern Baade zum Thema „Informationskriegsführung und Fake News – konfliktvorbereitende und konfliktbegleitende Informationsoperationen“ ein. Dabei ging es vor allem um die Darlegung der einschlägigen (rudimentären) völkervertraglichen Regelungen und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Dr. Jan Arno Hessbruegge sprach anschließend zur völkerrechtlichen Unterscheidung von staatlicher und individueller Selbstverteidigung im Lichte terroristischer Bedrohungen. Er wandte sich dabei gegen jede Vermengung des staatlichen Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 UN-Charta und des individuellen Selbstverteidigungsrechts, das er letztlich aus menschenrechtlichen Grundrechte herleitete. Er betonte insbesondere, dass sich über die persönliche Notwehrlage Einzelner keine Eingriffe in die staatliche Souveränität rechtfertigen lassen, insbesondere nicht über die Konstruktion einer humanitären Intervention. Das staatliche Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta setze stets einen staatsgerichteten Angriff voraus. Die Vermengung staatliche Selbstverteidigung und persönlicher Notwehr im Kontext der US-amerikanischen Diskussion um „naked self-defence“ und „self-defence targeting“ kritisierte Hessbruegge.
Der letzte Tagungsblock beschäftigte sich mit verfassungsrechtlichen und rechtspraktischen Fragen des Verteidigungs- und Bündnisfalles. Prof. Dr. Stefan Oeter, Universität Hamburg, referierte zum Thema „Verteidigung als gesamtstaatlicher Ansatz oder Primat des Militärischen im Verteidigungsfall?“. Dabei befasste er sich mit der verfassungsrechtlichen Regelung des Verteidigungsfalles, seiner Vorbereitung und des Zivilschutzes, insbesondere unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten. In diesem Zusammenhang verwies er auch auf die Bedeutung der sog. Sicherstellungsgesetze im Vorfeld des Verteidigungsfalles, die immer noch gelten, aber mangels Anpassung an die grundlegend veränderten Gegebenheiten von der Realität überholt und praktisch kaum anwendbar sind. Daran knüpfte auch das abschließende Referat von ORegR Michael Teichmann (Bundesministerium der Verteidigung) an. Sein Beitrag befasste sich mit „Umsetzungserfordernisse im europäischen und nationalen Recht – Deutschland als Transitland“. Teichmann erläuterte vor dem Hintergrund der neuen NATO-Strategie und der damit verbundenen Bedeutung der raschen Verlegung von NATO-Verbänden nach Mittelosteuropa die logistischen und rechtlichen Herausforderungen, die sich für Deutschland als Transitstaat dabei stellen. Dabei ging es auch Förderung grenzüberschreitender militärischer Mobilität im Kontext der EU („military Schengen“), namentlich als Ziel der PESCO.